Originalarbeit

Mario Schlegel

Komplexe und Schemata: Konzeptionelle Gemeinsamkeiten der Analytischen Psychologie und der Schematherapie

Diskussionsbeitrag zum Artikel von McMahon

Zusammenfassung: Die konzeptionellen Übereinstimmungen der Schematheorie nach Jeffrey Young und der Komplextheorie von C. G. Jung sind gross. Um diese Annäherung zu fördern, nimmt die vorliegende Arbeit eine theoretisch begründete, gegenseitige Zuordnung der Begriffe im Bereich der Komplexe und Schemata vor, und schlägt damit eine Struktur zur Verständigung vor.

Die Begriffe „Komplex“ in der Analytischen Psychologie und „Schema“ in der Schematherapie bezeichnen intersubjektives Verhalten, das auf die Erfüllung oder Nichterfüllung sozialer menschlicher Grundbedürfnisse, vor allem in der Kindheit, zurückgeführt wird. Sowohl Analytische Psychologie als auch Schematherapie beziehen sich damit auf das Modell der Prägungen oder des Lernens, sowie des Gedächtnisses.

Der Beitrag regt an, dass in der Analytischen Psychologie, ähnlich wie in der Schematherapie, eine systematische Darstellung der Komplexe vorgenommen wird und schlägt vor, diese auf den biologischen Aspekt der Archetypen, den „Patterns of Behavior“ abzustützen, das heisst, eine ethologische Perspektive einzunehmen.

Der in der vorliegenden Arbeit gemachte Einbezug der evolutionären Perspektive auf die Bereitschaftsmuster sozialer, menschlicher Grundbedürfnisse im intersubjektiven Verhalten, führt zudem zu einer Darstellung der Selbstregulation der Psyche, einem zweiten Grundprinzip der Analytischen Psychologie.

Schlüsselwörter: Analytische Psychologie, Schematherapie, Komplex, Komplexepisoden, Schema, archetypisches Verhalten, Evolution

Conceptual similarities between Analytical Psychology and Schema Therapy – discussion of McMahon’s article

Abstract: The conceptual correspondence between Jeffrey Young’s Schema Theory and Jung’s complex theory is significant. In order to develop this convergence, the present work provides a differentiated systematic horizontal classification of the concepts in the area of complexes and schemata, and puts forward a shared structure for understanding.

The concepts of “complex” in Analytical Psychology and “schema” in Schema Therapy describe intersubjective behavior, based on basic human social needs, being either met or not met, and can be primarily traced back to childhood. Both Analytical Psychology and Schema Therapy make reference to a model of environmental conditioning/imprinting or learning as well as memory.

This contribution encourages both Analytical Psychology and Schema Therapy to undertake a systematic description of complexes and suggests that this is to be supported with the biological aspects of archetypal models, the “patterns of behavior”, which means taking an ethological perspective.

The present work includes the evolutionary perspective of archetypal readiness of basic human social needs in intersubjective behavior that, in turn, leads to a representation of the psyche’s self-regulation, which is a second basic principle of Analytical Psychology.

Keywords: Analytical Psychology, Schema Therapy, complex, complex episodes, schema, archetypal behavior

Comunanze concezionali della psicologia analitica e della schema therapy – Contributo alla discussione sull’articolo di McMahon

Riassunto: Le corrispondenze concezionali tra la schema therapy secondo Jeffrey Young e la teoria dei complessi di C. G. Jung sono numerose. Per favorire questo accostamento, nel presente lavoro è stata svolta un’attribuzione sistematica orizzontale differenziata dei termini nell’ambito dei complessi e degli schemi proponendo in questo modo una struttura comune.

I termini "complesso" nella psicologia analitica e "schema" nella schema therapy definiscono un comportamento intersoggettivo riconducibile alla realizzazione, o mancata realizzazione, di bisogni umani sociali di base, soprattutto durante l’infanzia. Sia la psicologia analitica che la schema therapy con questi termini si riferiscono al modello delle coniature o dell'apprendimento nonché della memoria.

Il contributo propone che nella psicologia analitica, in modo analogo a quanto avviene per la schema therapy, venga effettuata una rappresentazione sistematica dei complessi e che questa venga sorretta dall'aspetto biologico degli archetipi, dei "pattern of behavior", il che significa assumere una prospettiva etologica.

L’inclusione nel presente lavoro della prospettiva evoluzionista, per il modello della disponibilità dei bisogni sociali umani di base nel comportamento intersoggettivo, porta inoltre a una rappresentazione dell’autoregolazione della psiche, un secondo principio di base della psicologia analitica.

Parole chiave: psicologia analitica, schema therapy, complesso, episodi del complesso, schema, comportamento archetipico

Die konzeptionellen Übereinstimmungen der Schematheorie nach Jeffrey Young und der Komplextheorie von C. G. Jung sind gross. Bereits 1999 erschien eine Arbeit, die die Kompatibilität der schemafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie mit dem kognitiven Ansatz in der Komplextheorie thematisierte (Tschudi 1999). Heisig (1999, S. 61–66) hat eine Gegenüberstellung der Schematheorie von Grawe und der Komplextheorie gemacht, und auch eine Recherche der Quellen zu Rate gezogen, die zeigt, dass Grawe seine „Theorie konzeptuell auf Zwilgmeyer (1981)“ stützt, „welcher wiederum sich auf die Archetypenlehre von Jung bezieht“. Nachdem in dieser Zeitschrift Meier (2012) bereits einen Vergleich von Konzepten der Analytischen Psychologie und der Schematherapie von Young vorgelegt hat, geht McMahon im vorliegenden Heft einen Schritt weiter. Sie beschreibt, wie die Entstehung und die Bewältigung von dysfunktionalen Beziehungsmustern in Märchen abgebildet und dadurch Ressourcen im therapeutischen Prozess erschlossen werden können. Dabei baut sie auf dem Bezug auf, den Roediger (2011) von der Schematherapie zur Analytischen Psychologie gemacht hat.

Um den Diskurs zwischen der schemafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie und der analytischen Therapie zu unterstützen, versucht dieser Diskussionsbeitrag eine vertiefte Klärung der sich entsprechenden Begriffe beizusteuern. Die folgenden Ausführungen beziehen sich dabei ausdrücklich nur auf den von der Schematherapie gegebenen Rahmen der sozialen Interaktionen.

Die Begriffe „Komplex“ in der Analytischen Psychologie (AP) und „Schema“ in der Schematherapie (ST) bezeichnen intersubjektives Verhalten, das auf die Erfüllung oder Nichterfüllung sozialer menschlicher Grundbedürfnisse vor allem in der Kindheit zurückgeführt wird. Damit sind die Beziehungspersonen, denen der Mensch im Verlaufe seines Lebens begegnet, an seinen persönlichen Komplexbildungen respektive Schemata beteiligt. Sowohl AP als auch ST beziehen sich damit auf das Modell der Prägungen oder des Lernens sowie des Gedächtnisses.

Dieser gemeinsame Bezug ist auch historisch bedingt, wie ein kurzer Exkurs zum verbindenden Teil der gemeinsamen Wurzeln von AP und ST zeigt.

Das Konzept der Komplexe stammt aus den Anfängen der experimentellen Psychologie. Es beruht auf Versuchen mit dem Assoziationsexperiment, das Wundt von Galton übernahm und weiterentwickelte. Von Kraepelin wurde es in die psychiatrische Forschung eingeführt. Unter Bleuler verwendeten Jung und Riklin an der psychiatrische Klinik Burghölzli Zürich, in der Jung ein experimentelles Forschungslabor führte, dieses Assoziationsexperiment, um herauszufinden, ob Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen unterschiedliche Assoziationen haben. Die erste Publikation der „Diagnostischen Assoziationsstudien: Experimentelle Untersuchungen über Assoziationen Gesunder“ erschien 1904 (Jung, 1995).1

Im Unterschied zu seinen Vorgängern, die in der Forschung mit dem Assoziationsexperiment Störungen beim Assoziieren nicht untersuchten, sondern diese auf äussere Faktoren zurückführten und als Fehler betrachteten, erregten gerade diese Fehler die Aufmerksamkeit Jungs. Sie auf innere Faktoren zurückführend, entwickelte er das Konzept der „affektbetonten Komplexe“. Ihre Entdeckung hat später auch zur Entstehung seiner Typologie der Introversion und Extraversion beigetragen. Diese Begriffe sind später in der akademischen Psychologie weiterentwickelt worden und gehören heute zum Standardmodell der Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen (Big Five).

Während das Konzept der Komplexe sich aus Forschungsresultaten der beginnenden experimentellen Psychologie in Europa ergab,2 entwickelte sich die AP im weiteren Verlauf innerhalb des damals neuen Paradigmas des Unbewussten, wo der affektbetonte Komplex wegen seiner oft bestehenden Unbewusstheit ein grundlegendes Modell bildet. Die Praxis der analytischen Psychotherapie macht die Komplexe im intersubjektiven Geschehen sichtbar, sodass die therapeutische Beziehung dadurch im Zentrum steht. Übertragung und Gegenübertragung sind dadurch zentrale Forschungsgegenstände, wodurch die Komplexe als psychodynamische Einheiten wahrgenommen und entsprechend benannt werden, wie zum Beispiel Mutter-, Vater- oder Minderwertigkeitskomplex, um nur die zu erwähnen, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommenen wurden.

Die Verhaltenstherapie hingegen hat ihre Wurzeln im Behaviorismus, der zu Beginn des 20 Jh. in Amerika entstanden ist. Die auf diesem Hintergrund in den 1990er Jahren entstandene Schematherapie hat allgemeine problembehaftete zwischenmenschliche Muster identifiziert, was zu einer Reihe von Themen führte, die als Schemata bezeichnet und zu Schemadomänen zusammengefasst werden.

Komplexe und Schemata

Beide Begriffe – „Komplexe“ wie „Schemata“ – und die dahinterstehenden Theorien versuchen dasselbe menschliche Verhalten zu beschreiben und zu erklären. Unterschiedlich erscheint allein – um eine Metapher zu verwenden – die Auflösung des „Mikroskops“, mit dem beide Ansätze ihren Gegenstand betrachten. Die Auflösung respektive Vergrösserung desjenigen der ST ermöglicht eine detailgenauere Betrachtung als das der Analytischen Psychologie, während letztere sich vor allem mit der Psychodynamik der Komplexe beschäftigt hat..

Wie sind die Befunde dieser beiden Vergrösserungsmassstäbe zusammenzubringen?

Auf der Seite der AP ist Kast einen Schritt weitergegangen, indem sie das Mikroskop auf die Dimension der neuronalen Verarbeitungsprozesse eingestellt hat. Sie verbindet die sogenannten RIGs (representations of interactions that have been generalized) von Daniel Stern (1992), der seinerseits vom „Episodengedächtnis“ ausgeht, das Tulving (1972) als Erinnerung an reale Erlebnisse und Erfahrungen beschrieben hat, und nennt diese Gebilde „Komplexepisoden“ (Kast, 1998, S. 108–110). So ist es möglich, die Kongruenz der Begriffe der AP und ST genauer anzuschauen.

Unter Einbezug der Evolution des Verhaltens kann die Entstehung der Komplexepisoden folgendermassen beschrieben werden: Die evolutionären Bereitschaftsmuster sozialer Interaktionen, die die individuellen und kollektiven Grundbedürfnisse des Menschen abdecken, werden in individuellen Situationen durch die Mitmenschen erfüllt oder nicht erfüllt. Durch die so entstehenden einzelnen Erlebnisse bilden sich, wie Kast es beschreibt, mittels des Kriteriums „emotional zusammengehörend“ generalisierte Episoden, Gebilde von durchschnittlichen Erwartungen, die in späteren ähnlichen Situationen immer wieder aktiviert werden.

Wenn Komplexepisoden aktiviert worden sind, spricht die AP von „konstellierten Komplexen“ oder davon, „in den Komplex gefallen“ zu sein. Seitens der ST entspricht dieser Zustand den Schemamodi. Komplexe können nach Jung auch völlig autonom sein und steuern dann das Ich. Die ST bezeichnet dermassen stark aktivierte Schemamodi als dissoziiert (Tabelle 1).

Schematherapie (ST)

Analytische Psychologie (AP)

Klassisch: ohne Einbezug der Komplexepisoden

Schema

Komplex

Schemadomäne

Komplex

Erweiterung: mit Einbezug der Komplexepisoden

Schemata

Komplexepisoden

Schemadomäne

Elternkomplexe

Erweiterung: durch den Einbezug des archetypischen Verhaltens

Unbedingte Schemata

Komplexepisoden

Bedingte Schemata

Regulierendes archetypisches Verhalten (aV)

Weitere Übereinstimmungen

Schemamodus

Konstellierter Komplex

Dissoziierter Schemamodus

Autonomer Komplex, Teilpersönlichkeit

Bewältigungs-Strategien

Abwehr-/Kompensations-Mechanismen

Tabelle 1: Übereinstimmung von Begriffen aus der Schematherapie mit denen der Analytischen Psychotherapie

Die Komplexepisoden sind mit den „bedingungslos gültigen Schemata“ der ST kongruent. Die ST hat 13 bedingungslose Schemata eruiert und hauptsächlich in drei Domänen eingeteilt:

Die ST hat auch bedingt gültige Schemata definiert und in zwei Domänen eingeteilt:

Bedingt gültige Schemata stellen Bewältigungsstrategien auf Schemaebene dar, sie entstehen nach Young et al. (2008, S. 56) häufig durch den Versuch, sich von der Wirkung eines „bedingungslos gültigen Schemas“ zu befreien. Die Bewältigungsstrategien der Erduldung, der Vermeidung oder der (Über-)Kompensation in der ST werden von Roediger (2011) mit dysfunktionalen Ausformungen von beobachtbaren Reaktionsmustern in Konflikten bei Tieren verglichen und McMahon (2014) macht in diesem Zusammenhang eine Verbindung zur biologischen Auslegung der Archetypenlehre von C. G. Jung. Der jungsche Psychiater Stevens hat zusammen mit Price bereits 1996 psychopathologische Störungen evolutionsbiologisch interpretiert.

Die bedingt gültigen Schemata können demnach theoretisch auch anders begründet werden, indem die Evolution und die Selbstregulation der Psyche in die Modellbildung einbezogen werden. Mit dem Konzept der Archetypen hat Jung eine naturwissenschaftlich-evolutionäre Sicht auf das menschliche Verhalten eingenommen. Er hat die Archetypen als „Instinkte“ oder „patterns of behavior“ definiert. Zusammen mit seiner Beschreibung der Psyche als selbstregulierendes System können sie auch als „Sollwerte des Verhaltens“ aufgefasst werden (Schlegel und Kast 2009, S. 95), sie übernehmen damit eine regulierende Funktion in der sozialen Interaktion, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden (Abb. 1).

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Fig. 1: Komplexe, Schemata und archetypische Verhaltensmuster

Das archetypische Verhalten zeigt sich auf zwei Ebenen:

Als archetypisch fundierte Bereitschaft für gesunde soziale Interaktionen. (oberstes Kästchen)

Als Reaktion auf unerfüllte Bedürfnisse, die es ermöglichen, sich in soziale Rollen einzufügen, sie aufrecht zu erhalten und aussichtslose Rangordnungs-Kämpfe zu vermeiden. Diese Stufe entspricht einem Selbstregulationsmechanismus auf Grund archetypischen Verhaltens, der die Chancen für das individuelle Überleben erhöht.

Der Begriff der Schemadomänen entspricht dem, was die AP als Komplexe bezeichnet. Es ist leicht zu sehen, dass sich die Themen einiger Domänen partiell in die Elternkomplexe der AP überführen lassen. Roesler (2010, S. 26) erwähnt, dass die Entstehung des Schemas „Verlassenheit und Instabilität“ mit „Erfahrungen von Verlassenheit und unsicheren Beziehungen zu Bezugspersonen in der Kindheit erklärt“ wird, und weiter: „Die Beschreibung dieses Schemas ist nahezu identisch mit dem, was die Analytische Psychologie als Mutterkomplex bezeichnet.“ Roesler unterscheidet dabei nicht zwischen „Schema“ und „Schemadomäne“, denn „Komplex“ und „Komplexepisode“ werden von ihm, wie oft in der Literatur der AP, auch nicht auseinander gehalten, obwohl die Rückführung auf die RIGs allgemeine Anerkennung gefunden hat. Seine Aussage ist trotzdem richtig, denn Komplex und Komplexepisode unterscheiden sich nur in der unterschiedlichen Perspektive auf das Objekt.

Im Beitrag von McMahon (2015) in diesem Heft erscheinen die „Komplexepisoden“ zusammen mit den Schemata bereits im Titel, was mich veranlasst hat, den Unterschied von Komplexen und Komplexepisoden genauer anzuschauen, zumal sie in ihrer Arbeit auch auf die in dieser Hinsicht offenen Fragen zum Begriff der Komplexepisoden hinweist. In meiner Diskussion dieser Frage mit Verena Kast erklärte sie, dass sie mit der Verbindung zu den RIGs eine Bottom-up-Perspektive auf die Komplexe eingeführt habe. Die Differenzierung, die sich dadurch ergibt, ermöglicht es, in der vorliegenden Arbeit eine theoretisch begründete systematische Gegenüberstellung der Komplexe und Schemata vorzunehmen. In der Diskussion der psychodynamischen Sicht mit McMahon, warum sie eine Parallele zwischen den Komplexepisoden und den Schemata zieht und sie alle Schemata der Domäne „Abgetrenntheit und Ablehnung“ mit dem negativen Mutterkomplex in Verbindung bringt, hat sich in meiner eher systemtheoretischen Perspektive herauskristallisiert, dass ein Komplex ein dynamisches Netzwerk verschiedener, miteinander interagierender Komplexepisoden ist, was auch eine Bottom-up-Perspektive auf das Gebilde des Komplexes oder eine Vergrösserung bis ins Detail darstellt. Dieses Netzwerk stellt sich bildlich immer auch in den Auswertungen des Assoziationsexperimentes heraus, wenn die emotionalen Bedeutungen der Assoziationen miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Auch im Zusammenhang mit den Komplexen, die Knox (2003) in Analogie mit den inneren Arbeitsmodellen der Bindungsforschung versteht, hat Bovensiepen (2006, S. 451) einen Vorschlag entwickelt, „Komplexe, die Jung als Teilpsychen versteht, als ein dissoziiertes Subnetzwerk aus der Netzwerk-Struktur der Psyche zu verstehen“. Im erwähnten Artikel gibt er auch eine vergleichende Übersicht zu Publikationen zur „Systemtheorie der Komplexe“.

Zusammenhang der Komplexepisoden mit archetypischem Verhalten

Die phylogenetisch evolutionären Bereitschaftsmuster sozialer Interaktionen, die individuelle und kollektive Grundbedürfnisse des Menschen abdecken, entsprechen archetypischem Verhalten, die sich ontogenetisch, d. h. entwicklungspsychologisch im Biotop des sozialen kulturellen Kontextes individuell unterschiedlich ausformen.

Die zugrunde liegenden Mechanismen der bedingt gültigen Schemata entsprechen den regulierenden evolutionären Anpassungen, die eine mehr oder weniger genügend befriedigende Interaktion im sozialen Kontext ermöglichen, sollten soziale Grundbedürfnisse des Individuums befriedigt oder nicht befriedigt worden sein. Sie sind eigentliche Überlebensmechanismen, die im Kollektiv auch eine stabile soziale Ordnung garantieren. Es sind die allbekannten Mechanismen, im Zusammenhang mit Rangordnungen, die sich auch bei anderen Säugetieren beobachten lassen, wie Dominanzverhalten, Kooperation zur Erhaltung der Macht oder Verbesserung der sozialen Stellung, Imponierverhalten, Erduldung, Subordination, Unterwerfung, Vermeidung, Kompensation (Abb. 1)

Allgemein ist zu bemerken dass diese Regelmechanismen nur funktional sind, wenn es nicht zu einer Fixierung kommt. Ein starrer Ablauf bedeutet, dass keine situationsadäquate Regelung erfolgt. ST als auch AP gehen davon aus, dass Bewältigungsstrategien oder Abwehr- und Kompensationsmechanismen zur Bewältigung unerfüllter Grundbedürfnisse dienen. Kommt es jedoch zu einer Fixierung dieser Mechanismen, so gehen beide Richtungen davon aus, dass dies zu psychischen Störungen oder zu Verhaltensauffälligkeiten führt (McMahon 2014).

Diskussion

Die vorliegende Arbeit zeigt, dass die auffallende Übereinstimmung der Komplextheorie und der Schematherapie durch die angenäherte Sichtweise auf das Objekt, nämlich das intersubjektive Verhalten als Reaktion auf die Erfüllung oder Nichterfüllung sozialer menschlicher Grundbedürfnisse, erklärt werden muss.

Das Konzept der Komplexe entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts in einem medizinisch-naturwissenschaftlichen Paradigma innerhalb der Psychiatrie mittels des Assoziationsexperimentes. C. G. Jung führte diagnostische Untersuchungen des Denkens bei unterschiedlichen Gruppen von psychischen Erkrankungen durch, die zur Entdeckung der Komplexe geführt haben. Auch das Konzept der Schematherapie entstand im klinischen Kontext. Es zählt zur dritten Welle der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Psychotherapien, welche die kognitiven Therapien um Konzepte humanistischer und psychodynamischer Therapien erweitert. Bei den Konzepten der letzteren handelt es sich um Abwehrmechanismen und die Bindungstheorie. Mit der Bindungstheorie überschneidet sich die Psychoanalyse mit der der Ethologie. Für die psychodynamischen Therapien ist es positiv, dass eine kognitiv-behaviorale Therapieform mit den Schemata die Komplexe bestätigt, und umgekehrt bestätigen hundert Jahre psychotherapeutische Praxis mit dem Konzept der Komplexe das Konzept der Schemata.

Um das gegenseitige Verständnis zu fördern, hat die vorliegende Arbeit eine theoretisch begründete systematische und gegenseitige Zuordnung der Begriffe im Bereich der Komplexe und Schemata vorgenommen. Inhaltlich lassen sich die Komplexe vermutlich nicht eins zu eins in die bestehenden Schemadomänen übersetzen. Dasselbe gilt für die Komplexepisoden und die Schemata. Die Schemata sind systematisch und detailliert auf Grund phänomenologischer Beobachtungen aufgefächert. Es wäre wünschenswert, dass die AP bezüglich der Komplexepisoden, auf eigenem Hintergrund, ebenfalls eine Systematik erarbeitete. Wegen der Verbindung der Komplexe mit den Archetypen liegt es auf der Hand, einer solchen Systematik archetypisches Verhalten zu unterlegen. Eine Quelle hierbei ist ohne Zweifel die Ethologie, wie Schlegel (2013) für die Evolution der Empathie dargelegt hat, denn „der soziale Kontext spielt auch für das evolutionsbiologische Verständnis der Manifestation psychischer Störungen eine wichtige Rolle“ (Brüne & Ribbert, 2002, S. 4-11). Bezüglich des dysfunktionalen Verhaltens kann eine solche Systematik auf die Evolutionäre Psychiatrie zurückgreifen, denn „evolutionspsychiatrisch werden psychopathologische Störungen phylogenetisch interpretiert“ (Schott & Tölle, 2006, S. 216). Im Bereich der AP stammen entsprechende Arbeiten von Stevens und Price (1996). In Verbindung mit neuen Erkenntnissen der Ethologie ist ein Rückgriff auf die Evolutionspsychiatrie durchaus vielversprechend.

Was kann die Schematherapie von der Analytischen Psychologie profitieren? Als Vertreter einer psychodynamischen Richtung steht es mir nicht zu, Ratschläge zu erteilen, allerdings lässt sich feststellen: „Hinsichtlich der Erkenntnisse der Analytischen Psychologie, was das intersubjektive Feld der Komplexe von Projektion, Konstellation, Übertragung und Gegenübertragung betrifft, ist bei den Schematherapeuten eine vorsichtige Öffnung zu beobachten (Jacob, 2011)“ (Meier 2012, S. 45). Die fruchtbarste Form des Austausches wären Intervisionen mit Vertreterinnen und Vertretern beider Richtungen, aus denen heraus auch gemeinsam neue Erkenntnisse formuliert werden könnten.

Autor

Mario Schlegel, Dr. sc. nat., schloss sein Biologiestudium an der Universität Zürich im Hauptfach Anthropologie ab. An der ETH Zürich doktorierte er in Verhaltenswissenschaften über psychophysiologische Reaktionen beim Wort-Assoziationstest. Ausbildung zum Psychotherapeuten am C.-G.-Jung-Institut Zürich, wo er heute als Dozent und Lehranalytiker tätig ist. Psychotherapeut in eigener Praxis, Leiter der Wissenschaftskommission der Schweizer Charta für Psychotherapie und Mitbegründer der Zeitschrift „Psychotherapie-Wissenschaft“. Autor und Herausgeber diverser Publikationen im Bereich der Psychotherapie. Gegenwärtiger Arbeitsschwerpunkt: Dialog zwischen den Psychotherapieschulen und die Unterstützung evolutionären und ethologischen Denkens in die Psychotherapie.

Korrespondenz

E-Mail: mario.schlegel@bluewin.ch

Literatur

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Anmerkungen

1 Eine zusammenfassende Publikation mit Beiträgen u. a. von Bleuler erschien 1915 in zwei Bänden (Jung, 1915). Eine kurze Beschreibung über den Weg des Assoziationsexperimentes findet sich bei Kast (1980) und bei Graf-Nold (1999), über die Empirie in der AP hat Meier (1968) eine zusammenfassende Darstellung publiziert. Einen Nachweis bedeutungsgebundener ermotionaler Reaktionen durch ein homogenes Kollektiv erbrachte Schlegel (1982).

2 Die Gründung eines selbständigen Laboratoriums für C. G. Jung am Burghölzli wurde von der Fakultät abgelehnt (Hell, 2006) Eine Weiterführung der Experimente fand daher nicht statt.